Im normalen Alltag bekommen wir nicht bewusst mit, welche Informationen sekündlich im Gehirn verarbeitet, gespeichert oder auch wieder vergessen werden. Der ständige gigantische Strom aller Impulse von den Sinnesorganen zum Gehirn und von dem Gehirn wieder zurück ins periphere Nervensystem würde uns bewusst schlicht wahnsinnig machen. Manchmal nehmen wir uns bewusst vor „das muss ich mir merken“, aber ob das so auch gelingt, ist die Frage.
Zentrale Ereignisse aber, die emotional erlebt werden (wie z. B. größere Erfolge oder auch Misserfolge), werden recht detailliert abgespeichert und können auch über viele Jahre hinweg mit großer Genauigkeit erinnert werden. Und zwar nicht nur mit allgemeinen „Rahmendaten“ wie Ort, Zeit, Ablauf, sondern auch mit den damals erlebten Emotionen. Solcherart bedeutsame, emotionale Erfahrungen werden auf verschiedene Arten im Gedächtnis abgelegt und abgerufen:
- Im expliziten Gedächtnis – speziell im autobiographischen Teil
- werden die expliziten und bewusst abrufbaren Kontextinformationen über Ort, Zeit und Ablauf eines Ereignisses ordentlich abgespeichert (zum Beispiel der letzte Urlaub, Tag der Hochzeit, der misslungene Vortrag usw.). Als Metapher wird diese Gedächtnisform auch „kaltes Gedächtnis“ genannt. Dieses Wissen über das Ereignis im Kontext von Lebensverlauf, Zeit und Raum ist willentlich und chronologisch abrufbar.
- Im „heißen“ impliziten Gedächtnis hingegen werden die sensorischen, kognitiven, emotionalen und physiologischen Elemente des Ereignisses in Form eines assoziativen Netzwerkes miteinander verknüpft. Es ist ein Netzwerk mit all den Fragmenten, die ich bei diesem Ereignis gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt, gefühlt, gedacht und körperlich wahrgenommen habe. Dieses Netzwerk ist nicht bewusst und kann automatisch durch Hinweisreize getriggert werden. Dann flammen all diese Fragmente wieder als Hier-und-Jetzt-Gefühl auf.
Normalerweise arbeiten das kalte und das heiße Gedächtnis eng zusammen und wir können Ereignisse aus unserer Erinnerung abrufen, ohne zu merken, dass wir auf zwei unterschiedliche Systeme zurückgreifen. So können wir bedeutsame positive oder auch negative Ereignisse erinnern, wiedererleben und auch wieder „beiseiteschieben“.
Beispiel: Erinnerung an den ersten kleinen Hund
Beim Erleben eines traumatischen Ereignisses wird durch die erhöhte Ausschüttung von Stresshormonen der Hippocampus – Ort des kalten Gedächtnisses – stark beeinträchtigt und die Amygdala – Ort des heißen Gedächtnisses – heftig aktiviert. Folge: Das selbstverständliche Zusammenspiel von kaltem und heißem Gedächtnis bricht bei psychischen Traumatisierungen zusammen. Der Kontextbezug ist nicht vorhanden und durch die massive Bedrohung des traumatischen Ereignisses werden die sensorischen und emotionalen Elemente besonders intensiv eingespeichert.
Wird das traumatische Ereignis nachfolgend nicht verarbeitet, bleibt die Verbindung zwischen kaltem und heißem Gedächtnis gestört. Hinweisreize können das Gedächtnisnetzwerk immer wieder heftig aufflammen lassen, was sich – ohne Verbindung zum kalten Gedächtnis – für den Betroffenen anfühlt, als würde das Ereignis hier und jetzt passieren.
Beispiel: Gewalttat
Bei mehrfach traumatisierten Personen sind diese verschiedenen „heißen“ Netzwerke, die auch Furchtnetzwerke genannt werden, miteinander verknüpft. So können sehr große Furchtnetzwerke entstehen, die sehr leicht aktivierbar sind und für den Betroffenen u.a. hoch belastende Erinnerungsattacken verursachen, die sich für ihn anfühlen, als würde es hier und jetzt passieren.
Wenn man das alles weiß, wird einem eindringlich klar, wie schwer es Traumaopfern fällt, über das Erleben zu erzählen und wie mühselig der Aufbau eines Kontextes für das traumatische Erleben ist, damit endlich dieses furchtbare Erleben eine Raum- und Zeitstruktur erhält und damit in die Vergangenheit verortet wird. Vergessen wird solch ein Ereignis allerdings nicht.