Ich-Entwicklung – ein Mastertrait der Persönlichkeit

Menschen unterscheiden sich voneinander unter anderem durch ihre Persönlichkeit. Diese drückt sich darin aus, „wie ein Mensch über verschiedene Situationen sowie einen längeren Zeitraum (Monate/Jahre) denkt, fühlt und sich verhält, das heißt mit seiner Umwelt agiert und auf sie reagiert.“ (T. Binder 2008).

Unterschiedliche Persönlichkeiten erkennt man an ihrem Verhalten

Zu den bekanntesten Persönlichkeitseigenschaften, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können, gehören die Big Five:

  1. Neurotizismus (z.B. Grad an Nervosität, Ängstlichkeit, emotionale Labilität)
  2. Extraversion (z.B. Grad an Geselligkeit, Aktivität, Gesprächigkeit)
  3. Offenheit für Erfahrungen (z.B. Grad an Neugier, Bevorzugung von Abwechslung)
  4. Verträglichkeit (z.B. Grad an Wohlwollen und Kooperation anderen gegenüber)
  5. Gewissenhaftigkeit (z.B. Grad an Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein)

Neben diesen statischen Persönlichkeitseigenschaften, die im Alter relativ stabil bleiben („Mit 30 sind wir, wer wir sind!“ nach Costa & McCrae) entdeckte Jane Loevinger in den 1960er Jahren noch einen anderen, übergeordneten Persönlichkeitsaspekt, mit dem auch noch im Erwachsenenalter eine weitere persönliche Entwicklung stattfinden kann: Die Ich-Entwicklung, auch persönliche Reife genannt, ist das „Ausmaß“ der Bewusstheit eines Menschen, also wie er sich, die Welt und sich in der Welt wahrnimmt.
Die Ich-Entwicklung spiegelt sozusagen den Kontext wider, in welchem sich die Persönlichkeitseigenschaften ausdrücken. Zum Beispiel können zwei Menschen, deren Eigenschaft „Gewissenhaftigkeit“ stark ausgeprägt ist, diese Gewissenhaftigkeit in qualitativ unterschiedlichen Kontexten ausüben. Oder wie Thomas Binder es deutlich ausdrückt: „Ein sich auf Konformität berufender Adolf Eichmann und eine Widerstandskämpferin wie Sophie Scholl, die ihrem eigenen Gewissen folgte, hätten möglicherweise den gleichen Wert im Faktor „Gewissenhaftigkeit“ erhalten können“ (T. Binder, 2019).

Grundsätzlich gilt, wenn Menschen (ob Kinder oder Erwachsene) sich in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln, dann finden wesentliche Veränderungen in folgenden Bereichen statt:

  • Im Charakter (in der Steuerung von Empfindungen, Gefühlen, Impulsen)
    Entwicklung von stark impulsgesteuert und mit Befürchtungen vor Bestrafung (wenn man sich „falsch“ verhält) zu immer stärker selbststeuernd, eigene Maßstäbe entwickelnd und diese später wieder transzendierend.
  • Im Umgangsstil mit anderen Personen
    Entwicklung von sehr manipulierend zu immer stärker die Autonomie (Eigenständigkeit und Verbundenheit) anderer Personen und der Umgebung (Gruppe, Organisation, Welt) berücksichtigend, sowie auf für alle Seiten tragfähige interpersonelle Vereinbarungen achtend.
  • Im Bewusstseinsfokus
    Entwicklung von stärker auf externe Dinge und eigene Bedürfnisse gerichtet bis zu mehr auf interne Aspekte (Motive, Gefühle etc.) sowie Individualität und Entwicklung ausgerichtet.
  • Im kognitiven Stil (In der Art und Weise zu denken)
    Entwicklung von sehr einfach und undifferenziert zu immer größerer konzeptioneller Komplexität, Multiperspektivität und Fähigkeiten mit Widersprüchen umzugehen.

Bei der Entwicklung von Kindern kennt das jeder: Ein Säugling ist zu Beginn ein „symbiotisches“ Wesen, entwickelt sich dann zu einem „impulsiven“ und „egozentrischen“ Kleinkind, anschließend zu einem „opportunistischen“ Kind usw. Nach dem gleichen Muster wie bei Kindern ist auch im Erwachsenenalter persönliche Weiterentwicklung möglich. Dabei geht es um wesentliche Veränderungen in den oben genannten Bereichen zu einem größer werdenden Bewusstsein über sich selbst und die Welt.

Diese Ich-Entwicklung vollzieht sich in zehn gut voneinander unterscheidbaren Entwicklungsstufen – sozusagen Stufen einer Transformationsleiter zu immer mehr Bewusstsein über sich und die Welt.

Ich-Entwicklungsstufen*

vor-konventionelle Stufen
E1Vorsoziale Stufe
– Säuglinge
– Kein Ego, Bedürfnisbefriedigung
E2Impulsive Stufe
– (Klein-) Kinder
– Egozentrische Weltsicht, Befriedigung körperlicher Bedürfnisse
E3Selbstorientierte Stufe
– Kinder
– Eigener Vorteil, Auge-um-Auge-Mentalität, Feedback zurückweisen, externale Schuldzuweisung, Fokus auf konkrete Dinge (nicht abstrakte)
– 5% der Erwachsenen stehen auf dieser Stufe
* nach J. Loevinger, T. Binder
konventionelle Stufen
E4Gemeinschaftsbestimmte Stufe
– (Schul-) Kinder
– Orientierung an Regeln und Normen der Bezugsgruppen, Definition der eigenen Identität durch Gruppenzugehörigkeit, Schuldgefühle bei Abweichung, Entweder-Oder-Kategorien
– 12% der Erwachsenen stehen auf dieser Stufe.
E5Rationalistische Stufe
– Junge Erwachsene
– Orientierung an Standards, rationales Denken und kausale Erklärungen, Motivation sich von anderen abzuheben, klare Vorstellungen wie Dinge laufen sollen, eher enges fachliches Denken, Betonung von Effizienz (statt Effektivität).
– 38% der Erwachsenen stehen auf dieser Stufe
E6Eigenbestimmte Stufe
– Erwachsene
– Entwickelte und selbst definierte Werte/Vorstellung/Ziele, Zielorientierung und Selbstoptimierung, Akzeptanz komplexer Situationen, reiches Innenleben, Gegenseitigkeit, Respekt vor individuellen Unterschieden.
– 30% der Erwachsenen stehen auf dieser Stufe.
* nach J. Loevinger, T. Binder
post-konventionelle Stufen
E7Relativierende Stufe
– Erwachsene
– Relativistische Weltsicht, stärkeres Hinterfragen der eigenen Sichtweisen, aufkommendes Bewusstsein über innere Konflikte und Paradoxien (ohne diese integrieren zu können), Individualität.
– 10% der Erwachsenen erreichen diese Stufe.
E8Systemische Stufe
– Erwachsene
– Ausgebildete Multiperspektivität, sowohl Prozess
als auch Zielorientierung, systemische Erfassung von Beziehungen, Integration von Widersprüchen, hohe Motivation zur eigenen Weiterentwicklung, hohe Toleranz von Ambiguitäten, Respekt vor Autonomie anderer.
– 4% der Erwachsenen erreichen diese Stufe.
E9Integrierte Stufe
– Erwachsene
– An kein explizites (Werte-/Gruppen-) System mehr gebunden, laufende neue Einordnung von Erfahrungen (self-actu alizing nature), in neue Zusammenhänge setzend (reframing mind).
– 1% der Erwachsene erreichen diese Stufe oder sogar die höchste Stufe E10.
E10„Fließende Stufe“
– Erwachsene
– Keine Bewertung mehr (von Dingen und Personen), Verschmelzen mit der Welt, auf den Fluss der Dinge einlassen (loslassen), Ineinandergreifen verschiedener Bewusstseinszustände, Denken in histor
* nach J. Loevinger, T. Binder

Die Ich-Entwicklung kann man kurz so zusammenfassen: Die erste Hälfte der Ich-Entwicklung ist eine

  • „Reise zum eigenen Ich als Freiheit von den anderen“, die zweite Hälfte ist eine
  • „Reise vom eigenen Ich als Freiheit von mir selbst“.

(https://sl-beziehungsarbeit.de/ich-entwicklung).

Keine Entwicklungsstufe kann übersprungen werden. Das Verbleiben auf einer Entwicklungsstufe ist oft dadurch bedingt, dass externe Reize zur Weiterentwicklung fehlen. Allerdings bedarf es auch einer inneren Bereitschaft eines Menschen, sich weiterentwickeln zu wollen. Damit ist nicht das Lernen im Sinne einer Aneignung von Wissen und weiteren Kompetenzen gemeint. Dies würde eher einen quantitativen Zuwachs von Informationen bedeuten. Ein Voranschreiten der Ich-Entwicklung setzt vielmehr die Bereitschaft zur Weiterentwicklung im Sinne einer differenzierteren und integrierten Sicht auf sich selbst und die Welt voraus. Es geht also um eine qualitative Entwicklung im Sinne einer Transformation.

Während fast alle Menschen im Laufe ihrer Kindheitsentwicklung die ersten (vorkonventionellen) Stufen durchlaufen, erfolgt die persönliche Weiterentwicklung von Erwachsenen nicht automatisch. Eine Vielzahl von Forschungen zeigt, dass die meisten Erwachsenen (80% der Bevölkerung) sich in ihrer Ich-Entwicklung auf einem mittleren Niveau, den konventionellen Stufen (E4, E5, E6), befinden. Nur 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung erreichen eine höhere, post-konventionelle Entwicklungsstufe. Die beiden höchsten Entwicklungsstufen (E9, E10) erreicht nur noch ein Prozent der Bevölkerung.

Was fördert denn die Ich-Entwicklung? Neben der bereits erwähnten inneren Bereitschaft wird hier von der Forschung eine Reihe von unterschiedlichen Umweltaspekten und Lebenserfahrungen genannt. In der Zusammenfassung:

„Potenziell entwicklungsfördernde Lebenserfahrungen

  • stellen die Struktur der bisherigen Ich-Entwicklungsstufe in Frage,
  • sind persönlich bedeutsam,
  • emotional fordernd,
  • interpersoneller Natur
  • als Herausforderungen positiv interpretierbar
  • bedürfen ein entwicklungsförderndes Klima (Mischung aus unterstützendes, wohlwollendes und gleichzeitig herausforderndes sowie infragestellendes Umfeld).“

(T. Binder 2019)

Es klingt schon an, dass das Erreichen einer höheren, post-konventionellen IchEntwicklungsstufe kein bequemer Spaziergang ist. Staudinger & Kunzmann (2005, zitiert nach T. Binder, 2019) beschreiben es so:

Es braucht außergewöhnliches Bemühen und wahrscheinlich auch Pein, um auf dem Weg in Richtung Weisheit und persönlichem Wachstum voranzuschreiten. Der Umfang kritischer Selbstprüfung und das Ausmaß an Flexibilität und Ungewissheitstoleranz, die notwendig ist, um diesen Fortschritt zu ermöglichen, erfordert eine besondere Kombination an persönlichen Eigenschaften, Motivation und Erfahrungskontexten, die selten vorkommen.

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